Finanzgericht Münster, Urteil vom 12.01.2023 Az. - 8 K 1080/21 -, „eigentlich” ein alter Bekannter: § 140 BGB. „Entspricht ein nichtiges Rechtsgeschäft den Erfordernissen eines anderen Rechtsgeschäfts, so gilt das letztere, wenn anzunehmen ist, dass dessen Geltung bei Kenntnis der Nichtigkeit gewollt sein würde.“ Anm. die sehr ausführliche und instruktive Urteilsbegründung beruht sehr verkürzt darauf, dass das Gericht frühere Rechtsprechung ablehnt, weil diese die Stellung des Rechtssuchenden verbösert. Vgl. bitte die Anm. am Ende dieses Beitrags.

Leitsatz
Wird gegenüber dem Finanzamt [Anm.: Beklagte] eine Stellungnahme zu einer streitigen Frage abgegeben, die nicht als Einspruch ausgelegt werden kann, kommt gleichwohl nach dem Rechtsgedanken des § 140 BGB eine Umdeutung in einen Einspruch in Betracht.

Aus dem Tatbestand des Urteils, die Parteien erklärend 

Streitig ist, ob zulässige Einsprüche vorliegen, insbesondere, ob zwei Schriftsätze des Klägerprozessbevollmächtigten als Einsprüche gegen zu diesem Zeitpunkt bereits ergangene, dem Klägerprozessbevollmächtigten aber noch unbekannte Haftungsbescheide anzusehen sind.

Die G-GmbH & Co. KG (nachfolgend („KG") betrieb bis August 2019 das Restaurant A in der I-Straße in N-Stadt. Kommanditisten der KG waren Frau N. H., die Ehefrau des Klägers zu 2., mit einem Gesellschaftsanteil von ca. 99 % sowie der Kläger zu 1. mit einem Gesellschaftsanteil von ca. 1 %. Komplementärin der KG war die G - Verwaltungs- u. Beteiligungs-GmbH (nachfolgend „Verwaltungs-GmbH"), deren Geschäftsführer der Kläger zu 1. war. Der Kläger zu 2. war bei der KG angestellt.

Der Beklagte teilte dem Kläger zu 1. mit Schriftsatz 10.07.2020 mit, dass offene Steuerschulden der KG bestünden und zu prüfen sei, ob und in welchem Umfang der Kläger zu 1. als Haftungsschuldner für die Steuerrückstände der KG in Anspruch zu nehmen sei. Der Kläger zu 1. wurde daher um Beantwortung verschiedener Fragen gebeten.

Mit einem weiteren Schreiben vom 28.09.2020 teilte der Beklagte dem Kläger zu 2. mit, dass auch diesem gegenüber eine Haftungsinanspruchnahme in Betracht komme. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger zu 2. faktischer Geschäftsführer gewesen sei. Dementsprechend bat der Beklagte auch den Kläger zu 2. um Beantwortung verschiedener Fragen.

Darauf bezugnehmend teilte der jetzige Prozessbevollmächtigte - wie in der früheren Anzeige der Vertretung des Klägers zu 1. ohne Vorlage einer schriftlichen Vollmacht - mit, dass er auch die Vertretung des Klägers zu 2. übernommenen habe. Die maßgebenden Zahlen zur Beurteilung einer möglichen Haftungsinanspruchnahme sollten bis zum 10.11.2020 vorliegen, sodass um entsprechende Fristverlängerung gebeten werde. Auf die Angelegenheit komme man unaufgefordert zurück. Im Übrigen sei der Kläger zu 2. nicht faktischer Geschäftsführer der KG gewesen.

Nachdem keine weitere Rückmeldung erfolgt war, erließ der Beklagte am 08.12.2020 jeweils Haftungsbescheide gegenüber den Klägern über Steuern und steuerliche Nebenleistungen i. H. v. insgesamt 90.407,61 EUR. Dabei schätzte der Beklagte die Haftungsquote bezüglich rückständiger Umsatzsteuern auf 100 %. Die Bescheide wurden an die Kläger persönlich adressiert und mit Zustellungsurkunde durch Einlage in die zur Wohnung gehörenden Briefkästen am 09.12.2020 zugestellt. Ebenso erließ der Beklagte am 08.12.2020 einen weiteren (nicht streitgegenständlichen) Haftungsbescheid gegenüber der Verwaltungs-GmbH, den er an den Kläger zu 1. an dessen Privatadresse zustellte.

Im Hinblick auf eine beabsichtigte Haftungsinanspruchnahme für Steuerschulden einer KG richtete das Finanzamt schriftliche Anfragen an die beiden Kläger. Nachdem bis auf einen Fristverlängerungsantrag des Prozessvertreters der beiden Kläger keine weitere Rückmeldung erfolgt war, erließ das Finanzamt jeweils Haftungsbescheide, die es beiden Klägern an ihre Privatanschrift zustellte. Innerhalb der Einspruchsfrist nahm der Prozessbevollmächtigte für beide Kläger inhaltlich zu den zuvor gestellten Anfragen Stellung. Die Haftungsbescheide waren ihm zum Zeitpunkt der Abfassung dieser Schreiben nicht bekannt. Nach Kenntnisnahme der Bescheide trug der Prozessvertreter vor, seine Schreiben seien als Einsprüche zu werten. Da die Einspruchsfrist zu diesem Zeitpunkt bereits abgelaufen war, verwarf das Finanzamt die Einsprüche wegen Fristablaufs als unzulässig. Die Klage, mit der die Kläger lediglich die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidungen beantragten, hatte Erfolg.

FG: Haftungsbescheide wirksam zugestellt
Das FG hat ausgeführt, dass das Finanzamt die Einsprüche zu Unrecht als unzulässig verworfen habe. Die Haftungsbescheide seien zunächst wirksam an die Privatadressen der Kläger zugestellt worden, da der Prozessvertreter zuvor keine Vollmachten vorgelegt habe. Die innerhalb der Einspruchsfrist eingegangenen Schreiben könnten zwar nicht als Einsprüche ausgelegt, aber in solche umgedeutet werden. Eine Auslegung scheitere daran, dass der wirkliche Wille nicht auf Anfechtung der Haftungsbescheide gerichtet gewesen sein könne, weil dem Prozessvertreter die Bescheide nicht bekannt gewesen seien.

Nach dem Rechtsgedanken des § 140 BGB komme jedoch eine Umdeutung in Betracht. Diese zivilrechtliche Vorschrift regelt, dass ein nichtiges Rechtsgeschäft, das den Erfordernissen eines anderen Rechtsgeschäfts entspricht, in ein wirksames Rechtsgeschäft umgedeutet werden kann, wenn ein entsprechender Wille anzunehmen ist. Grundsätzlich sei die Umdeutung auch im Steuerrecht anerkannt.

Rechtlich - Gebot des effektiven Rechtsschutzes
Nach Auffassung des Gerichts seien wegen des Gebots effektiven Rechtsschutzes auch "sinnlose" Verfahrenserklärungen umdeutungsfähig. Im Streitfall sei erkennbares Ziel der beiden Stellungnahmen des Prozessvertreters, auf dessen Kenntnishorizont abzustellen sei, die Verhinderung der Haftungsinanspruchnahme der Kläger gewesen. Dieses Ziel habe er aber nach Erlass der Haftungsbescheide nur durch Einlegung von Einsprüchen erreichen können. Es sei kein vernünftiger Grund ersichtlich, weshalb er nicht gegen die Bescheide Einsprüche eingelegt hätte, wenn ihm deren Existenz bekannt gewesen wäre. Einer Umdeutung stehe auch nicht entgegen, dass die Stellungnahmen von einem Rechtsanwalt verfasst wurden, deren Verfahrenserklärungen grundsätzlich beim Wort zu nehmen seien. Hiervon sei eine Ausnahme zu machen, wenn dem Rechtskundigen die tatsächliche Verfahrenssituation nicht bekannt gewesen sei. Da die Umdeutung ein verschuldensunabhängiges Rechtsinstitut darstelle, sei schließlich unerheblich, dass die Kläger ihren Prozessvertreter schuldhaft nicht rechtzeitig über die Zustellung der Haftungsbescheide informiert hätten. Der Senat hat die Revision zugelassen.

Anmerkung

Des Pudels Kern der Entscheidung findet sich in RdNr. 63 der Urteilsbegründung, da sind wir uns sicher: „Denn die auf der damaligen Rechtslage beruhende Begründung, dass bereits die bloße Einlegung des Einspruchs den Rechtsbehelfsführer mit einem Kostenrisiko belaste und der Finanzverwaltung die Möglichkeit eröffne, den Steuerbescheid zum Nachteil des Einspruchsführers zu verbösern, ist aus heutiger Sicht überholt: Das Einspruchsverfahren ist kostenfrei und der Steuerpflichtige kann einer Verböserung aufgrund des hierfür gem. § 367 Abs. 2 Satz 2 AO erforderlichen Hinweises der Finanzverwaltung durch Rücknahme des Rechtsbehelfs entgehen.

 

Andrea Schweizer

Andrea Schweizer

Rechtsanwältin
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Hochschullehrbeauftragte für IT-Recht sowie IT-Compliance (in den Studiengängen Informatik, Wirtschaftsinformatik und BWL)

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