Amtsgericht Singen, Urteil vom 29.04.2022, Az. 1 C 235/21. Sozialadäquates Verhalten ist zulässig. Siehe insbesondere unsere Anmerkung unten.
Leitsatz mit den Worten des Gerichts
Sozialadäquater Lärm in Form von Staubsaugen zur Mittagszeit oder Fenster- und Türenschließen ist von einem Nachbarn hinzunehmen. Es besteht keine Pflicht zur Vermeidung jedes störenden Geräusches.
Sachverhalt, wie er allgemein in den Medien berichtet wurde
„Die Mieterin einer Erdgeschosswohnung klagte im Jahr 2021 gegen die über ihr wohnende Nachbarin auf Unterlassung von Lärmstörungen. Sie beschwerte sich darüber, dass kurz nach 7 Uhr mit Fenstern und Türen geknallt und hin und her getrampelt werde. Auch staubsauge die Nachbarin jeden Tag gegen 12 Uhr. Die Wohnung befand sich in einem sehr hellhörigen Mehrfamilienhaus, ohne Trittschalldämmung.”
Rechtlich, mit den Worten des Gerichts, soweit ersichtlich:
„Die von der Klägerin genannten Belästigungen sind als Bagatelle zu werten. Der Beklagten ist es erlaubt, im Rahmen des Sozialadäquaten in der von ihr bewohnten Wohnung Geräusche zu verursachen, die andere Hausbewohner als ruhestörend empfinden. Ein Wohnungsmieter darf Mittags staubsaugen. Zwar kommt es beim Schließen von Fenstern und Türen zu punktuellen Geräuschentwicklungen. Diese gehören aber zum Alltagsleben und sind hinzunehmen.”
Von der Beklagten kann nicht erwartet werden, dass sie nach Ende der Nachtruhe sich ganz zaghaft und behutsam schleichend zu verhalten sowie zaghaft darauf zu achten, keinen Laut von sich zu geben und mucksmäuschenstill zu sein. Auch eine Hausordnung kann nicht vorgeben, dass "jedes störende Geräusch" zu vermeiden. Es gibt nun mal Alltagstätigkeiten, die naturgesetzlich mit Geräuschentwicklungen verbunden sind.
Anmerkung
Das Gericht hat einerseits leider anscheinend gemeint, zynisch verletzen zu müssen. Es hat jedoch auch andererseits verdienstvoll ein - für die Rechtspraxis wichtiges - Kriterium aufgeführt ("im Rahmen des Sozialadäquaten"). Zivilrechtlich und erst recht nachbarrechtlich wird es in Rechtsprechung und Schrifttum so gut wie nie ausdrücklich aufgeführt, geschweige denn rechtsmethodisch und inhaltlich abgehandelt. Zwei Beispiele jedoch:
Eine BGH-Entscheidung
Ein BGH-Urteil vom 4. 3. 1957 - GSZ 1/56 (Straßenbahnfall) legt auf seiner Seite 9 dar: „Dahingestellt mag bleiben, ob es sich um einen Sonderfall der Anwendung des Rechtsgedankens der sogenannten sozialen Adäquanz handelt."
OLG Hamm
Ein geradezu vorbildliches Urteil des OLG Hamm vom 13.7.2001 - 9 U 141/00 - legt dar: "Der Senat lässt offen, ob ein sog. sozialadäquates Verhalten die Rechtswidrigkeit entfallen lässt. Eine allgemeine Begriffsbestimmung versteht darunter Handlungen, die sich völlig innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftswesens bewegen und von ihr gestattet werden. Dazu werden außer der Einleitung rechtsstaatlicher Verfahren vor allem als Geringfügigkeiten zu wertende kleinste Beeinträchtigungen gerechnet, wie etwa alltägliche, sozial anerkannte Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, z. B.in Verkehrsmitteln (Nachw. bei Deutsch, Rdnr. 104).
Sozialadäquanzen, die an die Sorgfalt des Handelnden oder an Verhaltensnormmäßigkeit anschließen, werden dagegen als Rechtfertigungsgrund abgelehnt (Deutsch, Rdnr. 104). Mitunter wird Sozialadäquanz insgesamt als schlechthin ungeeigneter Maßstab für die Abgrenzung haftungsrelevanter Verhaltensweisen angesehen, weil der Begriff beschreibe, aber nicht bewerte (Geigel/Rixecker, Der Haftpflichtprozess, 23. Aufl. [2001], Kap. 2, Rdnr. 17).
Ergebnis
Jedenfalls in der Zeit des home office wird das Urteil des Amtsgerichts Siegen auf jeden Fall überdacht werden müssen. Wir in der Kanzlei meinen, dass es sehr wohl Fälle geben kann, in denen anders entschieden werden muss, als das Amtsgericht Singen geurteilt hat.
Rechtsanwältin
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