BayObLG Beschluss vom 3.2.2022 Az. 204 StR 2022. Es fragt sich, ob dieser Beschluss vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte standhielte, vgl. zum Beispiel EGMR Entscheidung vom 2.11.2006 Az. 60899/00. Wer einem erfahrenen deutschen Richter diese Frage stellt, dem wird nach unseren Erfahrungen insoweit skeptisch oder ärgerlich zur Rechtsprechung des EGMR geantwortet. Warum? Vgl. dazu bitte unten. Zuerst der Fall des BayObLG.
Nach dem Urteil des Bayerischen Obersten Landesgerichts macht sich eine Partei einer „Formalbeleidigung” schuldig, wenn sie einen Richter als „menschlichen Abschaum” bezeichnet.
Verfahrensgeschichte des vom BayObLG beurteilten Falls
Das Amtsgericht Weißenburg hat den Angeklagten wegen Beleidung in zwei Fällen für schuldig gesprochen und ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Diese Strafe wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt. Der Angeklagte hat eine Sprungrevision zum (wieder eingerichteten) BayObLG eingelegt.
Der 4. Strafsenat des BayObLG hat den Schuldspruch bestätigt.
Rechtliche Beurteilung durch das BayObLG
Bei einer Formalbeleidigung tritt die Meinungsfreiheit hinter dem Ehrschutz zurück. Eine Gewichtung oder Einzelabwägung findet dann nicht statt.
Zwar fallen auch scharfe und übersteigerte Äußerungen noch unter den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Jedoch nicht, wenn sie grob herabwürdigen. Der Angeklagte hatte genügend andere Möglichkeiten, seinen Unwillen anders auszudrücken.
„Menschlicher Abschaum” missachtet das absolute Mindestmaß menschlichen Respekts und ist deshalb grundsätzlich nicht mit der Meinungsfreiheit vereinbar sei. Der Angeklagte hat dabei auch nicht nur in der Hitze des Gefechts gehandelt.
Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 2.11.2006, Az. 60899/00. Wir haben über diese Entscheidung gleich am 2.11.2006 an dieser Stelle („Aktuelles”) berichtet. Diese Entscheidung ist noch heute typisch für die Rechtsprechung des EGMR.
Aus unserem Bericht vom 2.11.2006:
Das Linzer Bezirksgericht hatte wegen Beleidigung verurteilt. Der Anlass: In einer Zeitschrift des Verlages waren Homosexuelle als „kriechende Ratten” bezeichnet worden mit der Empfehlung, sie mit „der Peitsche” und „Nazi-Methoden” zu bestrafen. In der Urteilsbegründung beschrieb das Linzer Bezirksgericht, um seine negative Beurteilung zu rechtfertigen, mit präzisen Beispielen homosexuelle Praktiken bei Tieren.
Ein Journalist warf dem Linzer Richter in der österreichischen Tageszeitung „Der Standard” vor, er habe mit den „schockierenden Beispielen aus der Tierwelt” eine hasserfüllte Hetzkampagne gegen Homosexuelle geführt und es sei zu bezweifeln, ob der Richter über die erforderliche „intellektuelle und moralische Integrität” verfüge. Der Journalist kritisierte darüber hinaus, Gerichtsverfahren müssten sich besser „von den Traditionen mittelalterlicher Hexenprozesse” unterscheiden.
Das Landgericht St. Pölten verhängte am 9. 10. 1999 wegen übler Nachrede gegen einen Richter Geldbußen.
Das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte:
Das Straßburger Gericht verurteilte Österreich wegen Verletzung des Rechts auf Meinungs- und Pressefreiheit durch diese gerichtliche Verurteilung wegen übler Nachrede gegen einen Richter.
Anmerkung
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat somit umgekehrt geurteilt: anders als die österreichische Rechtsprechung keine Verurteilung des scharf angreifenden Journalisten wegen übler Nachrede gegen einen Richter, sondern Verurteilung des Landes Österreich wegen unzutreffender österreichischer Rechtsprechung.
Ergänzung zum Urteil des BayObLG
Da bis jetzt nur die Pressemitteilung des BayObLG herausgegeben wurde, zitieren wir ausführlicher aus der Pressemittelung des BayObLG vom 22. März 2022:
„Der Angeklagte habe mit Vorbedacht und nicht nur in der Hitze einer Auseinandersetzung ein nach allgemeiner Auffassung besonders krasses, aus sich heraus herabwürdigendes Schimpfwort verwendet, das eine kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit darstelle. Die verwendete Beschimpfung lasse das absolute Mindestmaß menschlichen Respekts vermissen und sei deshalb grundsätzlich nicht mit der Meinungsfreiheit vereinbar.
Lediglich ergänzend führt der Senat aus, dass auch bei einer Abwägung widerstreitender Interessen das Recht der Meinungsfreiheit hinter dem Ehrschutz des beschimpften Amtsträgers im konkreten Fall zurücktreten würde. Grundsätzlich gehöre es zum Kernbereich des Rechts auf freie Meinungsäußerung, gerichtliche Entscheidungen ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen zu kritisieren. Aus diesem Grund komme der Meinungsäußerungsfreiheit in diesen Fällen besonders hohes Gewicht zu. Auch scharfe und übersteigerte Äußerungen würden noch dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen.
Anders sei der Fall jedoch dann, wenn die Äußerung als äußerst grob herabwürdigend einzuordnen sei. Der abschätzige Begriff „menschlicher Abschaum“ treffe ausschließlich die Person des Richters und nicht dessen Tätigkeiten oder Verhaltensweisen. Der Angeklagte habe genügend alternative Äußerungsmöglichkeiten gehabt, um seine Einwendungen auch mit deutlichen Worten vorzubringen.
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