OLG München Urteil vom 20.10.2021, Az. 10 U 651/20. Ein Musterbeispiel für Komplikationen jeglicher sachverhaltlicher und rechtlicher Art. Und ein Lehrbeispiel dafür, dass der Radfahrer den Radweg benutzen solllte.Aber, so einfach ist das Leben nicht. Vor allem aber auch ein Beispiel dafür, dass bei aller Hochachtung die Rechtsprechung über die Instanzen hinweg verschlankt werden muss. Oft haben wir vor allem an dieser Stelle mit Entscheidungen aus vielen Rechtsgebieten veranschaulicht, dass sich der Aufwand nicht vertreten lässt.

Der Fall

Ganz einfach kann man denken: Wäre die Radlerin auf dem Radweg gefahren, wäre sie mit dem Motorradfahrer nicht so unheilvoll kollidiert, und es wären all die Komplikationen nicht entstanden. 

Verkürzt liest sich alles auch noch hinnehmbar: 25 Prozent Mithaftung der Radfahrerin wegen Fahrens auf der Straße statt auf dem Radweg.

Eindringlich warnendend stellt sich jedoch das Rechtsleben dar, wenn dem Urteil des OLG München entnommen wird, wir heben jeweils hervor):

b) Die vom Landgericht vernommenen Zeugen konnten ebenfalls keine belastbaren Angaben zu dem konkreten Unfallablauf machen. Zwar schilderten die Zeugen B., W. und H. die Fahrweise des Klägers vor dem Unfall als „stark überhöht“, „mit wahnsinniger Geschwindigkeit“ bzw. „aggressiv“ (vgl. S. 4 ff. der Sitzungsniederschrift vom 07.03.2018, Bl. 106/110 d.A.). Allerdings betreffen diese Schilderungen ein Fahrverhalten des Klägers deutlich vor der streitgegenständlichen Kollision und sind daher für das eigentliche Unfallgeschehen irrelevant, da die Zeugen weder das unmittelbare vorkollisionäre Fahrverhalten des Klägers in Annäherung an die Beklagte noch den streitgegenständlichen Unfall selbst beobachtet haben. Ein tragfähiger Rückschluss von einem zeitlich und räumlich früheren Fahrverhalten des Klägers auf dessen für die Entscheidung relevantes Fahrverhalten in unmittelbarer Annährung an den streitgegenständlichen Kollisionsort ist jedoch nicht möglich.

c) Auch dem Sachverständigen Dipl.-Ing. Dr. S., dessen hervorragende Fachkompetenz dem Senat aufgrund einer Vielzahl von Verfahren und Gutachten bekannt ist, gelang mangels ausreichender objektiver Anknüpfungstatsachen eine vollständige Aufklärung der streitgegenständlichen Kollision insbesondere in Bezug auf den Gesichtspunkt, ob dem Kläger ein Verstoß gegen Vorschriften der StVO nachgewiesen werden kann, nicht.

Zwar konnte der Sachverständige nachvollziehbar die Kollisionsgeschwindigkeit des Klägers zwischen 90 und 97 km/h (S. 59 des schriftlichen Gutachtens vom 20.02.2019, Bl. 221 d.A.) eingrenzen. Weiter konnte der Sachverständige sicher feststellen, dass das klägerische Motorrad im Bereich der linken Seitentasche der Satteltasche der Beklagten leicht schräg eingelaufen ist und mit dem Vorderrad den linksseitigen Schnellverschluss der Hinterachse am Fahrrad der Beklagten direkt getroffen hat, so dass sich unter Berücksichtigung sämtlicher zur Verfügung stehender Anknüpfungstatsachen der Kollisionswinkel im Bereich von etwa 15 ° bis maximal 25 ° (wahrscheinlich 20 °) eingrenzen lässt (S. 44 f. des schriftlichen Gutachtens vom 20.02.2019, Bl. 206/207 d.A.).

Allerdings konnte der Sachverständige keine klaren Feststellungen hinsichtlich des genauen Unfallortes treffen. Soweit der Sachverständige in diesem Zusammenhang das im Auftrag der PI T. erstellte unfallanalytische Gutachten des Sachverständigen Sch vom 02.01.2017 zitiert, wonach die Kollisionsposition etwas rechts der Straßenmitte etwa 3,2 m vom rechten Straßenrand entfernt liegt (S. 15 des schriftlichen Gutachtens vom 20.02.2019, Bl. 177 d.A.), führt er zwar weiter aus, dass aus spurentechnischer Sicht nichts dagegenspricht, dass diese Spurenlage den Bereich der Wechselwirkung der Parteifahrzeuge darstellt. Allerdings betont der Sachverständige, dass sich eine beweissichere Analyse dahingehend, dass diese Spuren tatsächlich durch eines der Parteifahrzeuge gezeichnet worden ist, mit den zur Verfügung stehenden Anknüpfungstatsachen nicht aufspannen lässt (S. 25 f. des schriftlichen Gutachtens vom 20.02.2019, Bl. 187 d.A.).
Weiter führte der Sachverständige nachvollziehbar aus, dass die Kollisionsgeschwindigkeit der Beklagten einer technischen Analyse entzogen ist, da das Stoßgeschehen eindeutig von dem deutlich masseschwereren und deutlich schnelleren Fahrzeug des Klägers bestimmt wird, so dass demzufolge eine stundenkilometergenaue Eingrenzung der tatsächlichen in die Wechselwirkung miteingebrachten Geschwindigkeit der Beklagten nicht möglich ist (S. 55 f. des schriftlichen Gutachtens vom 20.02.2019, Bl. 217/218 d.A.).

Schließlich konnte der Sachverständige auf der Grundlage der ihm zur Verfügung stehenden belastbaren objektiven Anknüpfungstatsachen auch keine Aussagen betreffend dem unmittelbaren vorkollisionären Verhalten des Klägers (insbesondere hinsichtlich der Annäherungsgeschwindigkeit des Klägers sowie hinsichtlich der Frage, ob bzw. wie stark der Kläger ggf. vor der streitgegenständlichen Kollision gebremst hat) treffen. Folglich führte der Sachverständige konsequenterweise aus, dass die tatsächliche Annäherungsgeschwindigkeit des Klägers nicht beweissicher zu fixieren ist sowie, dass sich eine beweissichere Analyse der tatsächlichen Möglichkeit der Vermeidbarkeit des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls seitens des Klägers mit den zur Verfügung stehenden Anknüpfungstatsachen nicht aufspannen lässt (S. 72 f. des schriftlichen Gutachtens vom 20.02.2019, Bl. 234/235 d.A.).
Somit kann dem Kläger entgegen der Ansicht des Landgerichts kein Verstoß gegen Vorschriften der StVO nachgewiesen werden, so dass die Haftung des Klägers für Schäden der Beklagten lediglich auf der Betriebsgefahr des klägerischen Kraftrades gemäß § 7 Abs. 1 StVG beruht.
2. Weiter ging das Landgericht rechtsfehlerhaft davon aus, dass der Beklagten ein Verkehrsverstoß nicht nachgewiesen werden kann. Denn aufgrund der in zweiter Instanz ergänzend durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Beklagte trotz einer durch das Verkehrszeichen 240 angeordneten Nutzungspflicht des weitgehend parallel neben der Bundesstraße 13 verlaufenden Fahrradweges in dem Bereich zwischen der Ortschaft Fall und der streitgegenständlichen Unfallstelle mindestens fahrlässig und damit schuldhaft gegen die Vorschrift des § 2 Abs. 4 StVO verstoßen hat, indem sie mit ihrem Fahrrad statt auf diesem

Bundesstraße 13 verlaufenden Fahrradweges in dem Bereich zwischen der Ortschaft Fall und der streitgegenständlichen Unfallstelle mindestens fahrlässig und damit schuldhaft gegen die Vorschrift des § 2 Abs. 4 StVO verstoßen hat, indem sie mit ihrem Fahrrad statt auf diesem Fahrradweg auf der Bundesstraße 13 gefahren ist.
a) Der vom Senat ergänzend beauftragte Sachverständige Dipl.-Ing. Dr. S. erläuterte nachvollziehbar und überzeugend anhand von Videoaufnahmen, die seitens des Sachverständigen angefertigt worden waren und die in der mündlichen Verhandlung vom 09.06.2021 mittels der im Sitzungssaal installierten Videoanlage in Augenschein genommen wurden, die Besonderheiten des Fahrbahnverlaufs der Bundesstraße 307 in der Fahrtrichtung L. zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen Unfalls (vgl. S. 3 3 ff. der Sitzungsniederschrift vom 09.06.2021, Bl. 464/466d.A.).
Zunächst erläuterte der Sachverständige, dass die von der Ortschaft Fall kommende Beklagte an der Abzweigung der Bundesstraße 13 weggehend von der Bundesstraße 307 nach links in die Bundesstraße 13 in Richtung L. eingebogen ist. Hätte die Beklagte den neben der Bundesstraße 13 in Richtung L. befindlichen Fahrradweg benutzen wollen, hätte sie jedoch stattdessen an dieser Abzweigung nach rechts die Bundesstraße 307 weiterfahren müssen, um dann in knapp 200 Meter in einen Fahrradtunnel einzufahren. Von diesem Punkt aus führt dann der Fahrradweg weitgehend parallel zur Bundesstraße 13 in Richtung L. Diese Einfahrt in den Fahrradtunnel konnte auf dem Video des Sachverständigen in der Annäherung an die Kreuzung der Bundesstraßen auf der rechten Seite vor Beginn der Staumauer erkannt werden. ......

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Weiter führte der Sachverständige zum einen aus, dass sich an der vorbeschriebenen Abzweigung der Bundesstraße 13 weggehend von der Bundesstraße 307 zumindest nunmehr ein Hinweis auf den gerade beschriebenen Fahrradweg befindet, der jedoch verglichen mit den gelben Schildern für die Kraftfahrzeuge wesentlich kleiner ist, und zum anderen, dass die Verkehrszeichen 237, 240 bzw. 241 an dieser Abzweigung ebenfalls zumindest nunmehr nicht angebracht sind. Der Sachverständige betonte dabei, dass es an dieser Abzweigung nach dem Unfall und vor Anfertigung seiner Videoaufnahmen bauliche Veränderungen gegeben hatte, so dass deshalb die örtliche Lage auf dem von ihm angefertigten Video nicht mehr entsprechend der zum Unfallzeitpunkt vorherrschenden Situation dargestellt werden konnte. Folglich konnte der Sachverständige nicht angeben, ob bzw. welche Hinweisschilder oder Verkehrszeichen sich zum Unfallzeitpunkt an der

Andrea Schweizer

Andrea Schweizer

Rechtsanwältin
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Hochschullehrbeauftragte für IT-Recht sowie IT-Compliance (in den Studiengängen Informatik, Wirtschaftsinformatik und BWL)

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