Bundesgerichtshof Urteil vom 16.11.2021, bekannt gegeben am 28.12.2021. spiegel.de hat einen Grundsatz missachtet, den er sicherlich kannte - nach allem was uns aus gegen den Spiegel bearbeiteten Fällen bekannt ist, und der im investigativen Journalismus ohnehin zum Handwerkszeug gehört. Demnach ist davon auszugehen, dass spiegel.de glänzen wollte und Zitate in den Medien anstrebte.

Leitsätze

a) Für eine identifizierende Verdachtsberichterstattung ist jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst "Öffentlichkeitswert" verleihen, erforderlich. Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten; sie darf also nicht durch eine präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Auch ist vor der Veröffentlichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich muss es sich um einen Vorgang von
gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist.
b) Das grundsätzliche Erfordernis einer Möglichkeit zur Stellungnahme soll sicherstellen, dass der Standpunkt des von der Verdachtsberichterstattung Betroffenen in Erfahrung und gegebenenfalls zum Ausdruck gebracht wird, der Betroffene also selbst zu Wort kommen kann. Dies setzt voraus, dass der Betroffene nicht nur Gelegenheit zur Stellungnahme erhält, sondern dass seine etwaige Stellungnahme auch zur Kenntnis genommen und der Standpunkt des Betroffenen in der Berichterstattung sichtbar wird.

Der rechtliche Kern des Urteils

"Die Beklagte [www.spiegel.de] hat keinerlei Bemühungen unternommen, in Betracht kommende Vertreter des Klägers zu ermitteln oder mit dem Kläger - etwa über dessen Familie, deren Anschrift der Beklagten bekannt war - in Kontakt zu treten. Gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass der Beklagten eine Kontaktaufnahme mit vertretbarem Aufwand möglich gewesen wäre, bringt die Revision nichts Durchgreifendes vor. Das Berufungsgericht hat hierzu unangegriffen festgestellt, ein anderes Presseorgan habe seine Berichterstattung zum streitgegenständlichen Thema am gleichen Tag gegen
19.30 Uhr um eine Stellungnahme des Klägers ergänzt. Es hat vor diesem Hintergrund zutreffend angenommen, dass der Beklagten, die den angegriffenen Artikel am Nachmittag veröffentlicht hat, ein Zuwarten mit der identifizierenden Berichterstattung bis in die Abendstunden auch unter Berücksichtigung der Eilbedürftigkeit der Nachricht und des hohen öffentlichen Berichterstattungsinteresses zumutbar war. Ob andere Medien die Nachricht bereits früher veröffentlicht hatten, ohne dem Betroffenen zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, ist insoweit ohne Belang. Die Auffassung der Beklagten, aufgrund der Umstände des Streitfalls habe hier jedes Bemühen um die Einholung einer Stellungnahme unterbleiben können, teilt der Senat daher nicht."

Der zum Verständnis wichtigste Sachverhalt

Der Kläger war von 2001 bis 2009 Leiter der Motorenentwicklung bei der Audi AG. Im Anschluss an seine Tätigkeit bei Audi wechselte der Kläger zur Muttergesellschaft nach Wolfsburg, verantwortete dort die Aggregate-Entwicklung im VW-Konzern und war zugleich Generalbevollmächtigter der Volkswagen AG. Ab dem Jahr 2011 gehörte er als Verantwortlicher für Forschung und Entwicklung zum Vorstand der Porsche AG. Diese Position hatte er bis zu seiner Beurlaubung im September 2015 im Zusammenhang mit der Aufdeckung des sogenannten VW-Dieselskandals inne. Interne Untersuchungen im Konzern wiesen dem Kläger im Folgenden kein persönliches Fehlverhalten nach. Im Jahr 2016 schied der Kläger nach Abschluss eines Aufhebungsvertrags aus dem Unternehmen aus.

Anmerkung

Der zum Sachverhalt hervorgehobene Satz legt den Verdacht nahe, dass spiegel.de den Betroffenen deshalb nicht anhörte, weil er seinen Artikel scharf halten wollte. - Es liegt nicht fern, dass spiegel.de eben auch gegen den Pressekodex verstoßen hat, also gegen die ethischen Bestimmungen der Presse. Ohne dem Presserat zuvor zu greifen: eine Rüge des Presserats wäre wohl die Folge gewesen. Auch nicht schön.

Ziff. 1 des Pressekodex (Wahrhaftigkeit)

Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.

Jede in der Presse tätige Person wahrt auf dieser Grundlage das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Medien.

Ziff. 2 des Presekodex (Sorgfalt)

Recherche ist unverzichtbares Instrument journalistischer Sorgfalt. Zur Veröffentlichung bestimmte Informationen in Wort, Bild und Grafik sind mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und wahrheitsgetreu wiederzugeben. ...

Um nicht missverstanden zu werden: Es kommt an dieser Stelle nicht darauf an, was am Ende der Untersuchungen zutrifft. Maßgeblich ist, mit allem gebotenen Respekt, wie sich die Presse seriös verhalten sollte.

 

Andrea Schweizer

Andrea Schweizer

Rechtsanwältin
zertifizierte Datenschutzauditorin (DSA-TÜV)
zertifizierte Datenschutzbeauftragte (DSB-TÜV)
Hochschullehrbeauftragte für IT-Recht sowie IT-Compliance (in den Studiengängen Informatik, Wirtschaftsinformatik und BWL)

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