Bundesabeitsgericht neue Urteile vom 10. November 2021 Az. 5 AZR 331/21 und 335/21: Ansprüche der Rider auf Ausstattung wegen Unwirksamkeit der AGB.
In Kürze das BAG - leitsatzartig
„Fahrradlieferanten (sogenannte „Rider“), die Speisen und Getränke ausliefern und ihre Aufträge über eine Smartphone-App erhalten, haben Anspruch darauf, dass der Arbeitgeber ihnen die für die Ausübung ihrer Tätigkeit essentiellen Arbeitsmittel zur Verfügung stellt. Dazu gehören ein verkehrstüchtiges Fahrrad und ein geeignetes internetfähiges Mobiltelefon. Von diesem Grundsatz können vertraglich Abweichungen vereinbart werden. Geschieht dies in Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Arbeitgebers, sind diese nur dann wirksam, wenn dem Arbeitnehmer für die Nutzung des eigenen Fahrrads und Mobiltelefons eine angemessene finanzielle Kompensationsleistung zusagt wird.”
Rechtliche Begründung, nach der Pressemitteilung (Hervorhebungen von uns)
„Die in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen vereinbarte Nutzung des eigenen Fahrrads und Mobiltelefons benachteiligt den Kläger unangemessen iSv. § 307 Abs. 2 Nr. 1 iVm Abs. 1 Satz 1 BGB und ist daher unwirksam. Die Beklagte wird durch diese Regelung von entsprechenden Anschaffungs- und Betriebskosten entlastet und trägt nicht das Risiko, für Verschleiß, Wertverfall, Verlust oder Beschädigung der essentiellen Arbeitsmittel einstehen zu müssen. Dieses liegt vielmehr beim Kläger. Das widerspricht dem gesetzlichen Grundgedanken des Arbeitsverhältnisses, wonach der Arbeitgeber die für die Ausübung der vereinbarten Tätigkeit wesentlichen Arbeitsmittel zu stellen und für deren Funktionsfähigkeit zu sorgen hat.
Eine ausreichende Kompensation dieses Nachteils ist nicht erfolgt. Die von Gesetzes wegen bestehende Möglichkeit, über § 670 BGB Aufwendungsersatz verlangen zu können, stellt keine angemessene Kompensation dar. Es fehlt insoweit an einer gesonderten vertraglichen Vereinbarung. Zudem würde auch eine Klausel, die nur die ohnehin geltende Rechtslage wiederholt, keinen angemessenen Ausgleich schaffen. Die Höhe des dem Kläger zur Verfügung gestellten Reparaturbudgets orientiert sich nicht an der Fahrleistung, sondern an der damit nur mittelbar zusammenhängenden Arbeitszeit. Der Kläger kann über das Budget auch nicht frei verfügen, sondern es nur bei einem vom Arbeitgeber bestimmten Unternehmen einlösen. In der Wahl der Werkstatt ist er nicht frei. Für die Nutzung des Mobiltelefons ist überhaupt kein finanzieller Ausgleich vorgesehen. Der Kläger kann deshalb von der Beklagten nach § 611a Abs. 1 BGB verlangen, dass diese ihm die für die vereinbarte Tätigkeit als „Rider“ notwendigen essentiellen Arbeitsmittel – ein geeignetes verkehrstüchtiges Fahrrad und ein geeignetes Mobiltelefon, auf das die Lieferaufträge und -adressen mit der hierfür verwendeten App übermittelt werden – bereitstellt. Er kann nicht auf nachgelagerte Ansprüche wie Aufwendungsersatz oder Annahmeverzugslohn verwiesen werden.”
Anmerkung - eine Abgrenzung zu Crowdworkern?
Berichtet haben wir an dieser Stelle bereits über die Rechtsprechung zu Crowdworkern (siehe bitte Suchfunktion), insbesonders über das Urteil des LAG München vom 4.12.2019 und das aufhebende Urteil des BAG vom 1.12.2020. Endgültige Feststellungen lassen sich nicht treffen. Selbst auf Basis der bei Juristen so beliebten Begründung: „Es kommt darauf an” wird man schwerlich Klarheit schaffen können. Oben haben wir einige Kriterien aus den neuen BAG-Urteilen hervorgehoben, die für „freie Mitarbeit” sprechen. Bestenfalls lässt sich von einer Tendenz des BAG zu Unselbständigkeit sprechen. Der Praxis hilft diese Rechtsprechung nicht, meinen wir.
Rückschlüsse - beispielsweise auf die Rechtsstellung der Interviewer - und das Rechtssystem
Aus der Pressemitteilung lassen sich selbstversändlich viele Details nicht ablesen. Wenn jedoch bitte einige grundsätzliche Probleme angesprochen werden dürfen:
Wie sollen sich insgesamt Unternehmer verhalten, die sinnvoll viele freiheitswillige und freiheitsbedürftige Rider oder Crowdworker zeitweise beschäftigen und wie beispielsweise Unternehmer, die aberhunderte oder tausende Interviewer für die Forschung einsetzen?
Die Interviewer wurden seit langem oft mit Rahmenverträgen beschäftigt, die möglichst Klarheit schaffen und Risiken nehmen sollen. Auch heute noch. Wenn ein Rentenversicherer nun zum Beispiel nach Jahren alle Interviewer eines Unternehens trotz eines sorgfältig ausgearbeiteten Ramenvertrages für freie Mitarbeiter und trotz der Wünsche der Interviewer als Unselbständige behandeln möchte, kann das nicht richtig sein. Die Beispiele Crowdworker und Rider deuten erneut an, dass rechtssystematisch und rechtspolitisch die Schwierigkeiten für Unternehmer rechtlich und verwaltungsmäßig noch größer werden. Das Rechtswesen lässt hier - muss man wohl leider feststellen - die Rechtswilligen, die Rechtsuchenden und letztlich auch die Rechtsprechung „im Stich”. Korrekt müssten sehr oft alle Fälle einzeln geprüft werden, jeder Crowdworker, jeder Rider und jeder Interviewer - und das in der Arbeitspraxis und dann bei der Prüfung. Unsere Kanzlei hat solche Fälle zu bearbeiten. Verlierer sind alle, die Wirtschaft, alle Einzelnen, der Rechtsstab (wie die Soziologen sagen) - bis hin zu den Rechtsanwälten, die auch nicht über Jahrzehnte den Kopf für unbefriedigende Ergebnisse hinhalten möchten. Im antiken Griechenland mussten die Überbringer schlechter Nachrichten um ihren Kopf fürchten.
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