Bundesgerichtshof Beschluss vom 21. September 2021, herausgegeben heute, 8.11.2021, Az. KZB 16/21. Der Beschluss interessiert vor allem auch im Hinblick auf den richterlichen Dezisonismus.
Leitsatz
Es kann die Besorgnis der Befangenheit begründen, wenn ein Richter, der zur Entscheidung über Schadensersatzklagen wegen Verstößen gegen das Kartellverbot
(hier: LKW-Kartell) berufen ist, zuvor im Rahmen seiner Referendarausbildung oder als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei einer Rechtsanwaltskanzlei tätig war, die von
einer an dem Kartell beteiligten Prozesspartei mit der Führung des Rechtsstreits sowie weiterer dazu in Sachzusammenhang stehender Rechtsstreitigkeiten betraut ist,
und in diesem Zusammenhang an der Erarbeitung von Schriftsätzen in parallel gelagerten Gerichtsverfahren mitgewirkt hat und bei der außergerichtlichen Beratung in
die Klärung übergeordneter Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Verteidigung gegen derartige zivilrechtliche Ansprüche eingebunden war.
Aus den Gründen
"Wegen Besorgnis der Befangenheit findet gemäß § 42 Abs. 2 ZPO die Ablehnung eines Richters statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Tatsächliche Befangenheit oder Voreingenommenheit ist nicht erforderlich; es genügt vielmehr der "böse Schein", das heißt der mögliche Eindruck mangelnder Objektivität (BGH, Beschluss vom 25. März 2021 - III ZB 57/20, MDR 2021, 831 Rn. 7 mwN; BVerfG, NJW 2012, 3228, juris Rn. 13). Diese Voraussetzung liegt vor, wenn ein Prozessbeteiligter bei verständiger Würdigung des Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter eine Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Oktober 2011 - V ZR 8/10, NJW-RR 2012, 61 Rn. 5, vom 13. Januar 2016 - VII ZR 36/14, NJW 2016, 1022 Rn. 9, vom 20. November 2017 - IX ZR 80/15, juris Rn. 3, und vom 25. März 2021 - III ZB 57/20, MDR 2021, 831 Rn. 7 mwN). Solche Zweifel können sich sowohl aus dem Verhalten des Richters innerhalb oder außerhalb des konkreten Rechtsstreits als auch - was hier in Rede steht - aus einer besonderen Beziehung des Richters zum Gegenstand des Rechtsstreits ergeben (vgl. MünchKommZPO/Stackmann, 6. Aufl., § 42 Rn. 20).
Nach diesen Maßstäben lag im Streitfall ein Ablehnungsgrund vor. ..."
Anmerkung
Wir haben in vielen Zusammenhängen immer wieder auf Probleme des richterlichen Dezisionismus mit Fundstellen hingewiesen, vgl. bitte Suchfunktion „Dezisionismus”. Vom amerikanischen Rechtsrealismus bis zu den Äußerungen von Richtern, wie Recht nach eigenem Gutdünken gesprochen wird und bis zu den Studien sowie Erkenntnissen zum Rechtsgefühl. Zu gutläubig ist - so ein von uns öfters zitierter Richter in der DRiZ - wer nicht weiß: "Nur in der Begründung wird so getan, als lese der Richter das Ergebnis meist nur aus dem Gesetz." Der Vorsitzende Richter a.D. am OLG München Prof. Seitz hat in der NJW offen und überzeugend gerufen: "Ach, der Richter ist so frei!" Die erwähnte, in den U.S.A. besonders gepflegte Lehre des „Rechtsrealismus” befasst sich bis in die Details hinein damit, wie sich die richterliche Persönlichkeit, auch ihre Erfahrungen, Gewohnheiten, Neigungen sowie selbst Stimmungen zu einzelnen Tageszeiten, auf den einzelnen Rechtsstreit auswirken können. Dies ist nur ein harmlos kleiner Ausschnitt aus den Problemen um den Dezisionismus. Jedenfalls: Die Erkenntnisse um den richterlichen Dezisionismus beweisen, dass im entschiedenen Fall mit Recht eine Besorgnis der Befangenheit bejaht worden ist.
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