Große Kammer EuGH Urteil vom 22.6.2021, Rechtssachen C-682/18 und C-683/18. Dieses neue Urteil kann verwirren, weil sich die Rechtsgrundlagen geändert haben. Wenn man nachliest, wie eingehend und umfassend sich die Große Kammer mit der Rechtslage befasst hat, erinnert dies an Julius Hermann von Kirchmann (1802-1884). Dazu unten in der Anmerkung am Schluss: Hier ein Überblick zur Rechtslage:

In diesem soeben erlassenen Urteil stellt der EuGH fest, dass Betreiber von Plattformen bei illegalen Uploads nicht für Urheberrechtsverletzung automatisch haften. Eine Ausnahme soll nur bestehen, wenn die Betreiber von der Illegalität erfahren. In diesem Ausnahmefall müssen sie unverzüglich löschen und sperren („Notice and take down“-Verfahren).

Beurteilt hat die Große Kammer zwei Fälle:

Ein deutscher Musikproduzent (Frank Peterson) hatte gegen YouTube u.a. geklagt. Ohne die Einwilligung des Produzenten waren im Jahre 2008 einige seiner Musikwerke veröffentlicht worden.

Im zweiten Fall klagte ein Verlag gegen die Sharehosting-Plattform „Uploaded“, die verschiedene Werke ohne dessen Erlaubnis hochgeladen hat.

Der EuGH beurteilt beide Fälle nach alter Rechtslage, die sich mittlerweile jedoch durch die Umsetzung der Richtlinie 2019/790/EU über das Urheberrecht im digitalen Binnenmarkt geändert hat. Auf nationaler Ebene setzt das am 7. Juni 2021 in Kraft getretene Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz (UrhDaG) die europäischen Bestimmungen in deutsches Recht um. Demnach sollen Plattformen unabhängig von ihrer Kenntnis für sämtliche urheberrechtsverletzende Inhalte zur Verantwortung gezogen werden können, was zur umstrittenen Einführung von Upload-Filtern nach Art. 17 der Richtlinie führen kann. Hiergegen hat die polnische Regierung bereits im Mai 2019 eine Klage in der Rs. C-401/19 eingereicht. Die Generalanwaltschaft beim EuGH wird in zwei Wochen, spätestens am 15. Juli 2021 seine Schlussanträge hierzu vorlegen.

Nach Texten über 144 Randnummern schließt die Große Kammer schließlich umfassend und aufwändig:

1. 

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft ist dahin auszulegen, dass seitens des Betreibers einer Video-Sharing- oder Sharehosting-Plattform, auf der Nutzer geschützte Inhalte rechtswidrig öffentlich zugänglich machen können, keine „öffentliche Wiedergabe“ dieser Inhalte im Sinne dieser Bestimmung erfolgt, es sei denn, er trägt über die bloße Bereitstellung der Plattform hinaus dazu bei, der Öffentlichkeit unter Verletzung von Urheberrechten Zugang zu solchen Inhalten zu verschaffen. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn der Betreiber von der rechtsverletzenden Zugänglichmachung eines geschützten Inhalts auf seiner Plattform konkret Kenntnis hat und diesen Inhalt nicht unverzüglich löscht oder den Zugang zu ihm sperrt, oder wenn er, obwohl er weiß oder wissen müsste, dass über seine Plattform im Allgemeinen durch Nutzer derselben geschützte Inhalte rechtswidrig öffentlich zugänglich gemacht werden, nicht die geeigneten technischen Maßnahmen ergreift, die von einem die übliche Sorgfalt beachtenden Wirtschaftsteilnehmer in seiner Situation erwartet werden können, um Urheberrechtsverletzungen auf dieser Plattform glaubwürdig und wirksam zu bekämpfen, oder auch, wenn er an der Auswahl geschützter Inhalte, die rechtswidrig öffentlich zugänglich gemacht werden, beteiligt ist, auf seiner Plattform Hilfsmittel anbietet, die speziell zum unerlaubten Teilen solcher Inhalte bestimmt sind, oder ein solches Teilen wissentlich fördert, wofür der Umstand sprechen kann, dass der Betreiber ein Geschäftsmodell gewählt hat, das die Nutzer seiner Plattform dazu verleitet, geschützte Inhalte auf dieser Plattform rechtswidrig öffentlich zugänglich zu machen.


2.

Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) ist dahin auszulegen, dass die Tätigkeit des Betreibers einer Video-Sharing- oder Sharehosting-Plattform in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fällt, sofern dieser Betreiber keine aktive Rolle spielt, die ihm Kenntnis von den auf seine Plattform hochgeladenen Inhalten oder Kontrolle über sie verschafft.

Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/31 ist dahin auszulegen, dass ein solcher Betreiber nur dann gemäß dieser Vorschrift von der in Art. 14 Abs. 1 vorgesehenen Haftungsbefreiung ausgeschlossen ist, wenn er Kenntnis von den konkreten rechtswidrigen Handlungen seiner Nutzer hat, die damit zusammenhängen, dass geschützte Inhalte auf seine Plattform hochgeladen wurden.


3.

Art. 8 Abs. 3 der Richtlinie 2001/29 ist dahin auszulegen, dass er dem nicht entgegensteht, dass der Inhaber eines Urheberrechts oder eines verwandten Schutzrechts nach nationalem Recht eine gerichtliche Anordnung gegen den Vermittler, dessen Dienst von einem Dritten zur Verletzung seines Rechts genutzt wurde, ohne dass der Vermittler hiervon Kenntnis im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2000/31 gehabt hätte, erst erlangen kann, wenn diese Rechtsverletzung vor der Einleitung des gerichtlichen Verfahrens zunächst dem Vermittler gemeldet wurde und wenn dieser nicht unverzüglich tätig geworden ist, um den fraglichen Inhalt zu entfernen oder den Zugang zu diesem zu sperren und dafür zu sorgen, dass sich derartige Rechtsverletzungen nicht wiederholen. Es obliegt jedoch den nationalen Gerichten, sich bei der Anwendung einer solchen Voraussetzung zu vergewissern, dass diese nicht dazu führt, dass die tatsächliche Beendigung der Rechtsverletzung derart verzögert wird, dass dem Rechtsinhaber unverhältnismäßige Schäden entstehen.

Anmerkung

Und nun die Erinnerung an Julius Hermann von Kirchmann. Oft wird von ihm zitiert:

„Durch einen ‚Federstrich des Gesetzgebers’ werden ganze juristische Bibliotheken ‚Makulatur’.“ So wurde die hier besprochene, mühsam erarbeitete Rechtsprechung der Großen Kammer des EuGH durch einen Federstrich des Gesetzgebers „überholt". Bekannt ist von ihm auch seine Rede, die er 1847 in der Juristischen Gesellschaft zu Berlin gehalten hat: „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft.” Daraufhin wurde er durch Beförderung zum Vizepräsidenten eines abgelegenen Oberlandesgerichts abgeschoben. Von Kirchmann ist überhaupt ein hochinteressanter Jurist und Politiker. Zu denken geben muss sein Lehrsatz: 

„Darüber hinaus hat jeder eine emotional aufgeladene, intuitive Meinung über das Recht. Wegen dieser Voreingenommenheit will der Jurist nicht nach der Wahrheit streben, sondern nur recht behalten." Auf den richterlichen Dezisionismus kommen wir seit mehreren Jahrzehnten vor allem im Rahmen der unbestimmten Rechtsbegriffe zu sprechen. Zur Lösung haben wir eine Grundnorm ermittelt, die zwischen Rechtspositismus und Narurrecht hindurch geht. Siehe zu Ihr bitte die Suchfunktion und insbesondere unsere Schrift: „Die Entdeckung der pluralistischen Wirklichkeit". Diese Schrift ist bei Google im Volltext nachlesbar. Wir werden vermutlich schon in einigen Wochen auf unserer Website dieses Buch und die Grundnorm besser ersichtlich vorstellen: „Die Stenosen des herkömmlichen juristischen Denkens mit Forschungen über die Grundnorm durchstoßen" (Formulierung Prof. Geimer).

 

Andrea Schweizer

Andrea Schweizer

Rechtsanwältin
zertifizierte Datenschutzauditorin (DSA-TÜV)
zertifizierte Datenschutzbeauftragte (DSB-TÜV)
Hochschullehrbeauftragte für IT-Recht sowie IT-Compliance (in den Studiengängen Informatik, Wirtschaftsinformatik und BWL)

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