Bundesgerichtshof Urteil vom 26.1.2021, Az. VI ZR 437/19, bekannt gegeben gestern, 27.4.2021. Das Urteil gibt als Leitsatz an: „Zur Presseberichterstattung über ehrbeeinträchtigende Äußerungen Dritter.” Es beschreibt, wie die Presse Artikel verfassen muss, wenn sie bei Berichten über persönliche Auseinandersetzungen einzelne Personen verletzt; hier einen Propst. Vgl. dazu bitte auch unsere Anmerkung unten am Ende des Berichts. Nachfolgend heben wir zu einem schnellen Überblick die im Urteil unseres Erachtens entscheidenden Kriterien hervor. Das Berufungsgericht hatte dem Propst noch geholfen. Der BGH hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage des Propstes uneingeschränkt abgewiesen. 

Wir zitieren aus dem genau gegliederten Urteil die Einleitungen zu einzelnen Abschnitten und einige weitere Ausführungen. Hervorhebungen von uns.

1. Das Berufungsgericht ist teilweise von einem unzutreffenden Aussagegehalt der von der Beklagten wiedergegebenen Äußerungen des J. F. und der S.R. ausgegangen.

2. Soweit sich aus der Wiedergabe der Äußerungen des J. F. dessen Tatsachenbehauptung entnehmen lässt, dass es 700 Kirchenaustritte im Jahr 2013 gegeben habe und dass bestimmte Personen die Gemeinde verlassen hätten
(Tenor des Berufungsurteils unter I.3., II.), ist das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers [Propstes] durch die Berichterstattung der Beklagten schon nicht betroffen, da sie sich nicht ansehensbeeinträchtigend auswirkt. Denn unmittelbar nach Wiedergabe dieser Äußerungen des J. F. wird in den Artikeln der Beklagten berichtet, dass die offiziellen Zahlen des Kirchlichen Verwaltungszentrums nur 78 Austritte auswiesen.[Anmerkung: Korrektur einer unzutreffenden Zahl somit erst in nachfolgenden Artikeln, wenn wir das Urteil richtig lesen].

3. Dieser Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers ist nicht rechtswidrig. ...Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht ist nur dann rechtswidrig, wenn das Schutzinteresse des Betroffenen die schutzwürdigen Belange der anderen Seite überwiegt. ..Im Streitfall ist das durch Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK (auch i.V.m.
Art. 12 Abs. 1 GG) gewährleistete Interesse des Klägers am Schutz seiner sozialen Anerkennung und seiner Berufsehre mit dem in Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 Abs. 1 EMRK verankerten Recht der Beklagten auf Meinungsfreiheit abzuwägen.
Die Schutzinteressen des Klägers überwiegen nicht die schutzwürdigen Belange der Beklagten [Presse]....Soweit die Berichterstattungen der Beklagten über die im Tenor des Berufungsurteils ... aufgeführten Äußerungen den Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers betreffen, handelt es sich um die zulässige Wiedergabe von Meinungsäußerungen Dritter. ..Sofern eine Äußerung, in der Tatsachen und Meinungen sich vermengen, durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt sind, wird sie als Meinung von dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt. ...

Im Zweifel ist im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes davon auszugehen, dass es sich um eine Meinungsäußerung handelt (vgl. BVerfG ...)

Die ehrbeeinträchtigenden Äußerungen betreffen den Kläger lediglich in seiner Sozialsphäre. Die Äußerungen beziehen sich auf die berufliche Tätigkeit des Klägers, also einen Bereich, in dem sich die persönliche Entfaltung von vornherein im Kontakt mit der Umwelt vollzieht. Äußerungen im Rahmen der Sozialsphäre dürfen nur in Fällen schwerwiegender Auswirkungen auf das Persönlichkeitsrecht mit negativen Sanktionen verknüpft werden, so etwa dann, wenn eine Stigmatisierung, soziale Ausgrenzung oder eine Prangerwirkung zu besorgen ist (vgl. Senat, Urteil vom 27. September 2016 - VI ZR 250/13, ..). Wird allerdings erkennbar lediglich die geäußerte Meinung eines Dritten dokumentiert, so kann dies bei einem entsprechenden Informationsinteresse der Öffentlichkeit zulässig sein, selbst wenn die Äußerung diffamierenden Charakter hat (vgl. BVerfG ...)

Das rechtlich geschützte Interesse des Klägers am Schutz seines Persönlichkeitsrechts überwiegt das sich aus Art. 5 Abs. 1 GG ergebende Interesse der Beklagten an der Berichterstattung nicht. Gegenstand der Berichterstattung der Beklagten sind Spannungen und Vorwürfe innerhalb einer Kirchengemeinde, die bereits längere Zeit andauerten, weite Kreise zogen und in einer Unterschriftenaktion mündeten. Es handelt sich damit um eine aktuelle Auseinandersetzung mit einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage. Dabei kommen - im Stil einer Diskussion mit Rede und Gegenrede - verschiedene Beteiligte zu Wort, was dem Leser einen besonders unmittelbaren und authentischen Eindruck der Situation und der unterschiedlichen Sichtweisen vermittelt. 

4. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Beklagte dürfe die ursprünglich rechtmäßig veröffentlichten Berichterstattungen nicht weiterhin zum Abruf in ihrem Online-Archiv bereithalten, ist unzutreffend.
a) Soweit nicht die ursprüngliche oder eine neuerliche Berichterstattung, sondern das öffentlich zugängliche Vorhalten eines Berichts, insbesondere in Presse-Archiven, in Rede steht, ist dessen Zulässigkeit anhand einer neuerlichen
Abwägung der im Zeitpunkt des jeweiligen Löschungsbegehrens bestehenden gegenläufigen grundrechtlich geschützten Interessen zu beurteilen. Dabei ist die ursprüngliche Zulässigkeit eines Berichts allerdings ein wesentlicher Faktor, der ein gesteigertes berechtigtes Interesse von Presseorganen begründet, diese Berichterstattung ohne erneute Prüfung oder Änderung der Öffentlichkeit dauerhaft verfügbar zu halten. Denn in diesem Fall hat die Presse bei der ursprünglichen Veröffentlichung bereits die für sie geltenden Maßgaben beachtet und kann daher im Grundsatz verlangen, sich nicht erneut mit dem Bericht und seinem Gegenstand befassen zu müssen (vgl. BVerfGE 152, 152 R).,,,

Die Interessen des Betroffenen sind mit den Interessen der Presse und der Allgemeinheit an der dauerhaften Zugänglichkeit einer ursprünglich zulässigen Berichterstattung in Hinblick auf die veränderten Umstände angemessen in Ausgleich zu bringen....

Danach überwiegen auch insoweit die rechtlich geschützten Interessen des Klägers nicht diejenigen der Beklagten. Es sind keine Umstände festgestellt oder sonst ersichtlich, aus denen sich ergibt, dass das weitere Bereithalten der ursprünglich rechtmäßigen Presseberichte zum Abruf im Archiv der Beklagten zu besonders gravierenden Folgen für den Kläger führt.

Anmerkung

Das Urteil liest sich so, als würde es den bekannten Spruch umkehren: „Wer mit Dreck wirft, verliert an Boden”. Mit Dreck geworfen haben anscheinend Gemeindemitglieder, so lesen wir das Urteil. Es stellt jedoch konstant darauf ab, dass nach Ansicht der Richter des BGH-Senats die Interessen des verletzten Propstes „nicht überwiegen”. Was wäre, wenn die Interessen des Propstes zwar nicht überwiegen, jedoch gleich viel wiegen. Darauf geht das Urteil nicht ein. Die Richter des OLG hatten die Interessen anders gewichtet. Rechtliche Argumente dafür, dass die Persönlichkeits-Interessen des Propstes nicht gleich viel wiegen, lassen sich vielleicht nicht finden. Der BGH wird einwenden, der Propst hätte geklagt, deshalb müsse er ein Überwiegen des Gewichts seiner Interessen nachweisen. Angreifer im Streit innerhalb der Kirchengemeinde sind jedoch, wenn man die Sachverhaltsschilderung des Urteils so auffassen darf, ein Teil der Gemeindemitglieder; der Propst wehrt sich. Ihn trifft dieses Urteil persönlich, sogar auf Dauer archiviert. Sein Schicksal ist somit dauerhaft betroffen. Oder anders gefragt: Wie sind Interessen abzuwägen? Nach welchen Kriterien? Wir haben den Eindruck, dass die Richter der Berufungsinstanz nach eigenem (gewissenhaften) Gutdünken pro Opfer, die des BGH ebenso nach eigenem (gewissenhaften) Gutdünken genau anders geurteilt  haben. Der Bundesgerichtshof hat jedoch selbst zum Begriff  der guten Sitten in einer ständigen Rechtsprechung des Ersten Strafsenats fortschrittlich diesen Dezisionismus abgelehnt; vgl. zum Beispiel Urteil vom 20.2.2013, Az. 1 StR 585/12. Die Antworten der Fragen zum richterlichen Dezisionismus werden allerdings erst nach und nach entwickelt. Vgl. etwa Schweizer, Die Entdeckung der pluralistischen Wirklichkeit, 3. Aufl., vollständig bei Google books nachlesbar und in weiteren Abhandlungen, siehe bitte unsere Suchmaschine, insbesondere die Beiträge unseres Seniors in den Festschriften für Kollegen in der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München: Prof. Sonnenberger, Prof. Heldrich, Prof. Geimer.   

Andrea Schweizer

Andrea Schweizer

Rechtsanwältin
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Hochschullehrbeauftragte für IT-Recht sowie IT-Compliance (in den Studiengängen Informatik, Wirtschaftsinformatik und BWL)

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