Sitzungen des Presserats, Beschwerdeausschuss, vom 23. - 25. März 20021. Am Unfallort aufgestelltes Gedenkfoto soll nicht veröffentlicht werden dürfen. Wie sind das Aufstellen eines Gedenkfotos zu verstehen und die Interessen abzuwägen? Der Beschwerdeausschuss hat abgewogen, ausgelegt und gerügt.
Der Presserat hat bekannt gegeben:
BILD AM SONNTAG und BILD.DE erhielten eine Rüge für die Berichterstattung über einen tödlichen Verkehrsunfall. Unter der Überschrift „Drogendealer rast Polizisten-Paar tot” hatte die Redaktion ein abfotografiertes Porträtbild veröffentlicht, das Angehörige an der Unfallstelle zum Gedenken an das getötete Paar aufgestellt hatten. Grundsätzlich ist die Abbildung solcher Unfall-Gedenkorte zulässig, betonte der Beschwerdeausschuss. Für die Veröffentlichung des herangezoomten Porträts hätte die Redaktion laut Ziffer 8, Richtlinie 8.2 des Pressekodex aber eine Erlaubnis der Angehörigen einholen müssen. Denn das Aufstellen eines Fotos zum Gedenken an Verstorbene bedeutet nicht automatisch eine Einwilligung in eine Presseveröffentlichung.
Anmerkung
Ziff. 8 Satz 2 des Pressekodex bestimmt:
Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; ...
Richtlinie 8.2. zu Ziff. 8 legt unter anderem fest:
Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.
Nun zur Spruchpraxis des Presserats:
Der Presserat hat schon immer besonders auf den Schutz der Opfer und ihrer Angehörigen geachtet. Es ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass der Presserat früher in dem einen oder anderen vergleichbaren Fall dementsprechend tatsächlich gerügt hat. Aber heute? Unser Senior war 19 Jahre Mitglied des Dt. Presserats sowie 16 Jahre seines Beschwerdeausschusses. Er hat bei der Überarbeitung des Kodex und seiner Richtlinien mitgewirkt. Wir müssen somit die frühere Spruchpraxis verstehen und zu würdigen wissen. Aber, nimmt die Autorin an:
Heute wird man eher als früher eine Einwilligung der Angehörigen unterstellen dürfen, auch wenn sie das Foto zum Gedenken nicht aufgestellt haben, sondern etwa Kollegen und Freunde der Opfer. Heute sind Fotos eher selbstverständlich. Und im Rahmen einer Abwägung der Interessen wird man schwerlich von den Redaktionen verlangen dürfen, dass sie - in den heutigen Geschwindigkeiten - ermitteln, wer die Angehörigen sind, und dann noch mit ihnen in diesem Falle die Einwilligung besprechen. Hinzukommt, dass die Richtlinie nur die Kodexbestimmung ausfüllt. Ziff.8 des Kodex verlangt jedoch von den Redaktionen, dass die Interessen abgewogen werden. Die Opferinteressen können ohnehin nur die Erben wahrnehmen. Wer jedoch sind die Erben der beiden Opfer?
Schließlich: Ein Opferschutz in dem vom Presserat mit Recht angenommenen Sinne, dass Leid nicht noch vergrößert werden soll, überwiegt hier nicht; zumal jedenfalls in der Zeit der Digitalität mit Schnelllebigkeit und mehr Publizität gerade auch mit Bildern fraglich ist, ob nach der Auffassung von Angehörigen und eines erheblichen Teils des Verkehrs ein Bild erwünscht ist.
Unter diesen Umständen die schärfste Maßnahme überhaupt zu ergreifen, nämlich die Redaktion mit einer Rüge zu belasten, nicht einmal „nur" mit einer Missbilligung oder einem Hinweis: Da wird wohl doch den Redaktionen die Quadratur des Kreises abverlangt.
Die hier erwogenen Grundlagen sind nicht eine Nebensache. Die Entscheidungen zum Opferschutz sind für den Presserat und die Presse von größter Bedeutung; mit Recht, meint die Autorin.
Das Ergebnis in aller Hochachtung für den Presserat, wenn man diese Überlegungen akzeptiert: Die Spruchpraxis und, genau betrachtet, offenbar mindestens auch die Richtlinien scheinen novellierungsbedürftig. Hier steht als Phase an: die weitere Anpassung an die gewachsene Digitalität.
Rechtsanwältin
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