BAG Urteil vom 1.12.2020, Az. 9 AZR 102/20. Das Urteil ist noch nicht im Volltext veröffentlicht. Eine Pressemeldung liegt vor. Hervorhebungen von uns. Wir hatten an dieser Stelle über das vorinstanzliche Urteil des LAG München vom 4.12.2019, Az. 8 Sa 146/19, am 5.12.2019 berichtet, vgl. bitte im Archiv dieser Meldungen. Erst der Volltext des Urteils wird zeigen können, wie das BAG die unseres Erachtens höchst sorgfältige Urteilsbegründung des LAG München überzeugend widerlegen kann. Wir werden weiter berichten.

Im entschiedenen Fall wird der Kläger als Arbeitnehmer qualifiziert, ohne dass ihm dies viel nutzen wird. Vgl. dazu bitte die  Anmerkung unten: Höhe der Vergütung. Betroffen sind, so wird neuerdings geschätzt, insgesamt 150.000 Personen, wie etwa nebenbei tätige Architekten, Designer und Programmierer sowie vor allem Pizzaboten und Fahrradkuriere.

Auch wenn der vom BAG beurteilte Sachverhalt gleich zu Beginn die Beobachtung des Marktes streift, wird das Urteil gerade nicht auf die in der Markt- und Sozialforschung nach Berufsrecht geschulten interviewenden Mitarbeiter bezogen werden können. Prinzipiell nicht zutreffen und damit bei der vom BAG geforderten Gesamtbetrachtung das Gegenteil erweisen werden auf Interviewerinnen und Interviewer zum Beispiel die in den Urteilsgründen für den entschiedenen Fall genannten Voraussetzungen:

a. „Durch dieses Anreizsystem wurde der Kläger [Crowdworker] dazu veranlasst, in dem Bezirk seines gewöhnlichen Aufenthaltsorts kontinuierlich Kontrolltätigkeiten zu erledigen”. Ein derartiges Anreizsystem für eine häufige Tätigkeit bei einem einzelnen Auftraggeber, wie im beurteilten Fall, gibt es für Interviewerinnen und Interviewer grundsätzlich nicht.

b. „Der Auftraggeber [crowdsourcer] steuert die Zusammenarbeit über die von ihm betriebene Online-Plattform so, dass der Auftragnehmer [crowdworker] infolge [des Anreizsystems de facto] ... seine Tätigkeit nach Ort, Zeit und Inhalt nicht frei gestalten kann”. In der Presseerklärung stützt sich das BAG, darauf „dass über einen Account angemeldete und eingearbeitete Nutzer kontinuierlich Bündel einfacher, Schritt für Schritt vertraglich vorgegebener Kleinstaufträge annehmen“. Bei den Interviewerinnen und Interviewern gibt es ein solches Bündel nicht.

c. Die Anzahl der Aufträge und der Umfang der Tätigkeit: 3.000 Aufträge in elf Monaten. 3.000 (durchgeführte) Aufträge in elf Monaten sind für die einzelnen Interviewerinnen und Interviewer nicht denkbar.

Zum Sachverhalt schildert das BAG:

Die Beklagte kontrolliert im Auftrag ihrer Kunden die Präsentation von Markenprodukten im Einzelhandel und an Tankstellen. Die Kontrolltätigkeiten selbst lässt sie durch Crowdworker ausführen. Deren Aufgabe besteht insbesondere darin, Fotos von der Warenpräsentation anzufertigen und Fragen zur Werbung von Produkten zu beantworten.

Auf der Grundlage einer "Basis-Vereinbarung" und allgemeiner Geschäftsbedingungen bietet die Beklagte die "Mikrojobs" über eine Online-Plattform an. Über einen persönlich eingerichteten Account kann jeder Nutzer der Online-Plattform auf bestimmte Verkaufsstellen bezogene Aufträge annehmen, ohne dazu vertraglich verpflichtet zu sein. Übernimmt der Crowdworker einen Auftrag, muss er diesen regelmäßig binnen zwei Stunden nach detaillierten Vorgaben des Crowdsourcers erledigen. Für erledigte Aufträge werden ihm auf seinem Nutzerkonto Erfahrungspunkte gutgeschrieben. Das System erhöht mit der Anzahl erledigter Aufträge das Level und gestattet die gleichzeitige Annahme mehrerer Aufträge.

Der Kläger führte für die Beklagte zuletzt in einem Zeitraum von elf Monaten rd. 3.000 Aufträge aus, bevor sie im Februar 2018 mitteilte, ihm zur Vermeidung künftiger Unstimmigkeiten keine weiteren Aufträge mehr anzubieten. Mit seiner Klage beantragte er zunächst festzustellen, dass zwischen den Parteien ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht. Im Verlauf des Rechtsstreits kündigte die Beklagte am 24.6.2019 ein etwaig bestehendes Arbeitsverhältnis vorsorglich. Daraufhin erweiterte der Kläger seine Klage, mit der er außerdem u.a. Vergütungsansprüche verfolgt, um einen Kündigungsschutzantrag.

Rechtliche Beurteilung nach der Presseerklärung des BAG

„Die Arbeitnehmereigenschaft hängt nach § 611a BGB davon ab, dass der Beschäftigte weisungsgebundene, fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit leistet. Zeigt die tatsächliche Durchführung eines Vertragsverhältnisses, dass es sich hierbei um ein Arbeitsverhältnis handelt, kommt es auf die Bezeichnung im Vertrag nicht an. Die dazu vom Gesetz verlangte Gesamtwürdigung aller Umstände kann ergeben, dass Crowdworker als Arbeitnehmer anzusehen sind. Für ein Arbeitsverhältnis spricht es, wenn der Auftraggeber die Zusammenarbeit über die von ihm betriebene Online-Plattform so steuert, dass der Auftragnehmer infolge dessen seine Tätigkeit nach Ort, Zeit und Inhalt nicht frei gestalten kann. So liegt es im Streitfall.

Der Kläger leistete in arbeitnehmertypischer Weise weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit in persönlicher Abhängigkeit. Zwar war er vertraglich nicht zur Annahme von Angeboten der Beklagten verpflichtet. Die Organisationsstruktur der von der Beklagten betriebenen Online-Plattform war aber darauf ausgerichtet, dass über einen Account angemeldete und eingearbeitete Nutzer kontinuierlich Bündel einfacher, Schritt für Schritt vertraglich vorgegebener Kleinstaufträge annehmen, um diese persönlich zu erledigen. Erst ein mit der Anzahl durchgeführter Aufträge erhöhtes Level im Bewertungssystem ermöglicht es den Nutzern der Online-Plattform, gleichzeitig mehrere Aufträge anzunehmen, um diese auf einer Route zu erledigen und damit faktisch einen höheren Stundenlohn zu erzielen. Die Urteilsbegründung weiter: Durch dieses Anreizsystem wurde der Kläger dazu veranlasst, in dem Bezirk seines gewöhnlichen Aufenthaltsorts kontinuierlich Kontrolltätigkeiten zu erledigen.

Die Revision des Klägers war gleichwohl überwiegend zurückzuweisen. Die vorsorglich erklärte Kündigung hat das Arbeitsverhältnis der Parteien wirksam beendet. Hinsichtlich der vom Kläger geltend gemachten Vergütungsansprüche war der Rechtsstreit an das LAG zurückzuweisen.” 

Anmerkung

1.

Stellt sich ein vermeintlich freies Dienstverhältnis im Nachhinein als Arbeitsverhältnis dar, kann nach dem Urteil in der Regel nicht davon ausgegangen werden, die vereinbarte Vergütung sei der Höhe nach auch für eine Beschäftigung als Arbeitnehmer verabredet. Geschuldet sei vielmehr die übliche Vergütung nach § 612 Abs. 2 BGB.  Da insoweit jedenfalls noch Sachverhalt aufzuklären ist, hat das BAG an die vorangehende Instanz, das LAG München, zurückverwiesen. 

2.

Bekannt ist, dass die Bundesregierung einen „Digitalgipfel" abgehalten hat. Der Bundesarbeitsminister will die "Gig Economy" gesetzlich erfassen. Geregelt werden sollen eine Pflicht zur Rentenversicherung für Freelancer, einen Anspruch auf Krankengeld, Mutterschutz und Urlaub sowie Kündigungsfristen und eine erleichterte Möglichkeit, den eigenen Beschäftigungsstatus zu klären. Anmerkung: Wikipedia definiert „Gig Economy“ als „einen Teil des Arbeitsmarktes, bei dem kleine Aufträge kurzfristig an unabhängige Selbständige, Freiberufler oder geringfügig Beschäftigte vergeben werden. Dabei dient häufig eine Onlineplattform als Mittler zwischen Kunde und Auftragnehmer, die Rahmenbedingungen setzt und deren Betreiber eine Provision einbehält”. Bei dieser Definition ist fraglich, ob Interviews in der Markt- und Sozialforschung überhaupt von diesem geplanten Gesetz erfasst werden.

Andrea Schweizer

Andrea Schweizer

Rechtsanwältin
zertifizierte Datenschutzauditorin (DSA-TÜV)
zertifizierte Datenschutzbeauftragte (DSB-TÜV)
Hochschullehrbeauftragte für IT-Recht sowie IT-Compliance (in den Studiengängen Informatik, Wirtschaftsinformatik und BWL)

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