Die dritte Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anerkennt in seinem Urteil vom 24. Juni 2004 nicht die folgenden Kernsätze der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. 12. 1999:
Diese (die Öffentlichkeit) hat ein berechtigtes Interesse daran zu erfahren, ob solche Personen, die oft als Idol oder Vorbild gelten, funktionales und persönliches Verhalten überzeugend in Übereinstimmung bringen. Eine Begrenzung der Bildveröffentlichungen auf die Funktion einer Person von zeitgeschichtlicher Bedeutung würde demgegenüber das öffentliche Interesse, welches solche Personen berechtigterweise wecken, unzureichend berücksichtigen und zudem eine selektive Darstellung begünstigen, die dem Publikum Beurteilungsmöglichkeiten vorenthielte, die es für Personen des gesellschaftlich-politischen Lebens wegen ihrer Leitbildfunktion und ihres Einflusses benötigt. Ein schrankenloser Zugriff auf Bilder von Personen der Zeitgeschichte wird der Presse dadurch nicht eröffnet.
Ganz anders der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, jedenfalls dessen dritte Kammer. Siehe dazu insbesondere Nr. 76 des Urteils vom 24. Juni. Aus Nr. 76 dieses Urteils ergibt sich: Wann immer über Personen berichtet wird, sollen - so die dritte Kammer - „Artikel und Fotos” nur zulässig sein, soweit mit ihnen über diese Personen in ihren „offiziellen Funktionen” ein „Beitrag zur Debatte mit Allgemeininteresse erbracht” wird. Lediglich für Politiker will die dritte Kammer Ausnahmen zulassen. So wörtlich der an den Kanzler gerichtete „Verlegerbrief” vom 19. August 2004.
Die dritte Kammer schränkt somit - gerade anders als das BVerfG - auf die offizielle Funktion ein und erstreckt seine Erklärung neben Fotos auch noch gleich auf Artikel.
Bis zum 24. September könnte die Bundesregierung entgegen ihrer bisher Entscheidung - doch noch beantragen, dass die Rechtssache an die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verwiesen wird. Man muss bedenken: Es geht bei der Entscheidung der Bundesregierung „nur” darum, dass eine derart außergewöhnlich wichtige Frage doch an die Große Kammer verwiesen werden sollte.
Unwissenschaftlich bzw. unprofessionell verhalten sich die wenigen, die sich bislang für die dritte Kammer ausgesprochen haben. Sie erklären nicht direkt, warum sie die zitierten Überlegungen des BVerfG (Leitbildfunktion, Vorbild, Idol, Realitätsvermittlung, Steuerung der Medien durch die Prominenten) für falsch oder unerheblich halten. So zum Beispiel der Verfasser einer „Anmerkung” im neuen Heft 8/9 der Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht.
Zwei Aspekte sind in der Diskussion bislang überhaupt noch nicht erwähnt, soweit bekannt auch noch nicht bedacht worden:
- Das Straßburger Urteil muss - vgl. oben - vom deutschen Gesetzgeber durchgesetzt werden. Für Pressegesetze sind jedoch die Länder, nicht der Bund zuständig. Die Entscheidung, nicht die Große Kammer anzurufen, ist deshalb inhaltlich eine Länder-Entscheidung.
- Es wird voraussichtlich nicht lange dauern, bis argumentiert werden wird: Die Europäische Menschenrechtskonvention ist in die Europäische Verfassung integriert. Sobald die Europäische Verfassung in Kraft tritt, gilt die Europäische Menschenrechtskonvention als vorrangiges Europäisches Verfassungsrecht. Damit ist das Urteil der dritten Kammer als Inerpretation der Europäischen Verfassung beachtlich.