Oberlandesgericht Hamm , Urteil vom 09.07.2019 - 24 U 27/18
Die Wesentlichkeit der Blendwirkung von Dachpfannen ist nicht schematisch, sondern nach dem Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. Erforderlich ist dazu im Regelfall die Durchführung eines Ortstermins.
Der Fall, wie ihn das Gericht in einer Pressemitteilung schildert.
Im Juni 2015 ließ der Beklagte das Dach seines Hauses mit hochglänzend
glasierten Dachpfannen eindecken. Im Mai 2017 tauschte der Beklagte
einen Großteil dieser Dachpfannen durch matt glasierte – sog.
engobierte – Ziegel aus, nicht aber die im Bereich der Ortgänge und des
Dachfirsts verlegten Dachpfannen. Die Kläger machten geltend, dass
es insbesondere in den Monaten April bis Oktober in der Zeit von
10.30 Uhr bis 15.30 Uhr und bei Vollmond in den Wintermonaten zu starken
Reflexionen des Sonnenlichts sowohl durch die hochglänzend als
auch die matt glasierten Dachziegel komme. Hierdurch würden sie stark
geblendet, weshalb sie ihren Garten sowie Wohn- und Esszimmer nur
eingeschränkt – mit gesenktem Kopf – nutzen könnten. Aus diesem
Grund verlangten sie von dem Beklagten, dass er Blendwirkungen, die
von dem Dach seines Gebäudes ausgehen und ihr Haus betreffen, verhindert.
Das Urteil, Hervorhebungen stets von uns.
Die Berufung der Kläger gegen dieses Urteil, mit der sie vom Beklagten
weiterhin verlangen, die von dem Dach seines Gebäudes ausgehenden
und ihr Haus betreffenden Blendwirkungen insgesamt zu verhindern,
hat keinen Erfolg.
Begründung
Zwar wird durch die vom Dach des Hauses des Beklagten ausgehenden Lichtreflexionen das Grundeigentum der Kläger beeinträchtigt. Allerdings sind die Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme dazu verpflichtet, die von den engobierten Dachpfannen
ausgehenden Lichtreflexionen gemäß § 1004 Abs. 2 BGB zu dulden, weil es sich um unwesentliche Beeinträchtigungen im Sinne von § 906 Abs. 1 BGB handelt. Verbindliche Richtwerte, bei deren Überschreitung eine wesentliche Beeinträchtigung indiziert wäre, gibt es nicht. Maßgeblich für die Beurteilung der Wesentlichkeit ist daher das Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen, wobei auf die konkreten Umstände des Einzelfalls wie die Dauer der Blendwirkung, die Intensität der Lichtreflexe und die daraus
resultierenden Auswirkungen auf die Nutzung des betroffenen Grundstücks abzustellen ist. Deshalb kann nicht schematisch von einer Erheblichkeit ab einer Lichtstärke von 100.000 Candela pro Quadratmeter ausgegangen werden, wie sie in vereinzelten landesrechtlichen Regelwerken zu der zulässigen Lichtstärke von Photovoltaikanlagen festgelegt ist, wenngleich bei deren Erreichen regelmäßig eine Wesentlichkeit vorliegen wird. Nach den Feststellungen des Sachverständigen sowie den Eindrücken bei einem vom Senat im Juni 2019 durchgeführten Ortstermin kann eine wesentliche Beeinträchtigung durch die engobierten Dachpfannen in dem vorliegenden Einzelfall nicht angenommen werden.
Einen solchen Ortstermin hatte der Senat – anders als noch das
Landgericht – hier für notwendig gehalten, um sich einen eigenen, fundierten
Eindruck vor Ort von den Auswirkungen der Lichtreflexe zu verschaffen.
Anmerkungen
Das Urteil ist rechtskräftig. Es veranschaulicht ein weiteres Mal die Probleme um das Verkehrsauffassungsrecht:
Richtwerte an die sich das Gericht normativ halten müsste, existieren für diesen Fall nicht. Folglich ist die Verkehrsauffassung maßgeblich. Jedoch: Der eine Nachbar wird ein verständiger Durchschnittsmensch sein. Der andere Nachbar aber auch. Wessen Auffassung soll entscheiden? Die Richter haben angenommen, der verständige Durchschnittsmensch fasst so auf, wie der eine Nachbar und das erstinstanzliche Gericht. So gehen die Gerichte üblicherweise vor, auch wenn zur Zeit vielleicht Millionen von Nachbarn eine andere Auffassung haben. Wir sind bereits an vielen Stellen auf diese Problematik eingegangen. Demnächst werden wir in unserem neuen Internetauftritt das erste Mal als neues Rechtsgebiet das „Verkehrsauffassungsrecht” abhandeln und unsere zahlreichen Abhandlungen zu diesem Rechtsgebiet allgemein besser zugänglich machen.
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