BVerfG, Beschluss vom 21.11.2018, Az. 1BvR 436/17. Anmerkung: Ein wichtiger rechtsfortbildender Beschluss. Das Bundesverfassungsgericht beurteilt einen Verstoß, der gerade auch sorgfältig arbeitenden Gerichten oft unterlaufen kann.

Der Fall, wie ihn das BVerfG schildert:
Der Beschwerdeführer wird in einem noch anhängigen Klageverfahren am Sozialgericht von einer gesetzlichen Krankenkasse auf Zahlung von ca. 49.000 € in Anspruch genommen. Die Krankenkasse wirft dem Beschwerdeführer vor, mit einem Versicherten, der von ihr ein persönliches Budget erhält, Abrechnungsbetrug über die Leistungen des Beschwerdeführers als Pflegekraft begangen zu haben. Die Krankenkasse übersandte dem Gericht eine passwortgeschützte CD mit der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte, die in Absprache mit dem zuständigen Staatsanwalt nur für das Gericht bestimmt sei. Sie teilte zudem mit, dass das Passwort bei ihr telefonisch erfragt werden könne. Die zuständige Richterin ließ das Passwort von ihrer Geschäftsstelle erfragen. Gleichzeitig verfügte sie die Übersendung einer Durchschrift des Schriftsatzes, mit dem die CD übersandt wurde, an den „KlBev“ (gemeint war wohl der Bevollmächtigte des beklagten Beschwerdeführers) zur Kenntnisnahme. Diese Verfügung wurde nicht ausgeführt.
Begründung
Entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hat das Sozialgericht nicht beachtet, dass im Einzelfall bereits bestimmte Vorbereitungshandlungen den Eindruck der Voreingenommenheit für einen Prozessbeteiligten bei vernünftiger Würdigung aller Umstände entstehen lassen können, auch wenn noch kein Verfahrensfehler vorliegt. Das Passwort dient ausschließlich der Entschlüsselung der CD, so dass die abgelehnte Richterin, unter Ausschluss des Beschwerdeführers, nach Eingang des Passwortes unmittelbar Einsicht in die Ermittlungsakten hätte nehmen können. Dies kann bei vernünftiger Würdigung den Eindruck einseitiger Verfahrensführung erzeugen und begründet somit die Besorgnis der Befangenheit. Dies gilt jedenfalls dann, wenn es - wie hier - an hinreichenden Anhaltspunkten für eine neutrale Verfahrensführung fehlt. Denn Vorbereitungshandlungen entfalten bei vernünftiger Würdigung aller Umstände eine andere Wirkung als etwa das passive Empfangen von Erkenntnisquellen, wie zum Beispiel unaufgefordert übersandte Patientenakten, und deren Verwahrung bei der Gerichtsakte, bis über deren Verwertung im weiteren Verfahren entschieden wird. Die nachträgliche Mitteilung der abgelehnten Richterin, dass nie beabsichtigt gewesen sei, dem Verfahren Akten zu Grunde zu legen, die dem Beschwerdeführer nicht zur Verfügung stünden, kann den Anschein, den ihre Vorbereitungshandlung erzeugt hat, nicht entkräften.