Urteil vom 19. September 2018, 2 BvF 1/15, 2 BvF 2/15:

Für die Markt- und Sozialforschung ist aus den Leitsätzen die folgende Feststellung eine nützliche (und selbstverständliche) Bestätigung: „Eine klare Überlegenheit der Vollerhebung gegenüber einer registergestützten [repräsentativen] Erhebung ist nach dem gegenwärtigen Stand der statistischen Wissenschaft nicht feststellbar. So kommt es bei Vollerhebungen erfahrungsgemäß zu Ungenauigkeiten im Rahmen der primärstatistischen Befragungen, zu in Massenverfahren nicht vermeidbaren Komplikationen sowie zu Schwierigkeiten bei der Gewährleistung der Einheitlichkeit des Verfahrens und der Schulung der großen Zahl von Erhebungsbeauftragten. Demgegenüber ist das gewählte Verfahren mit erheblich geringeren Belastungen der Befragten verbunden. Dies ermöglicht eine höhere Akzeptanz in der Bevölkerung und verringert das Risiko von fehlerhaften oder unvollständigen Antworten und Antwortverweigerungen und verbessert damit auch die Präzision der Erhebung. Das Unionsrecht lässt angesichts der Gleichwertigkeit von Vollerhebung und registergestütztem Zensus aus fachwissenschaftlicher Sicht den Mitgliedsstaaten im Übrigen ausdrücklich die Wahl zwischen beiden Verfahren sowie kombinierten Methoden. Vor diesem Hintergrund haben sich zahlreiche Mitgliedstaaten ebenfalls für ein registergestütztes Verfahren entschieden.”
Anmerkungen
1.
Rechtsgrundlage des Zensus 2011 ist insbesondere das Gesetz zur Durchführung einer Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt sowie die Wohnsituation der Haushalte vom 17. Januar 1996 (Mikrozensusgesetz 1996). Um repräsentative Daten zu erhalten, müssen Registerdaten durch eine Befragung auf Basis einer repräsentativen Haushaltsstichprobe ergänzt werden.
2.
Entschieden wurde vom BVerfG, dass die (angegriffenen) Vorschriften, welche die Vorbereitung und Durchführung der zum Stand vom 9. Mai 2011 erhobenen Bevölkerungs‑, Gebäude- und Wohnungszählung (Zensus 2011) zum Gegenstand haben, mit der Verfassung vereinbar sind.
3.
Für alle Marken- und Wettbewerbsrechtler:
Der BGH und der EuGH bestätigen bekanntlich, dass repräsentative Umfragen das beste Beweismittel zum Nachweis des rechtserheblichen Sachverhalts zur Verkehrsauffassung sind. Aber in der Praxis gibt es immer wieder Vorbehalte und Vorurteile. Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts wird nach den Erfahrungen des Verf. dieser Zeilen doch helfen, weniger geübte Entscheider zu vergewissern.
4.
Aktuelle (Gesamt-)Bevölkerungsumfragen. Zur Zeit muss allerdings darauf hingewiesen werden: Anders als zu den von den bekannten Instituten veröffentlichten Umfrageergebnissen, wird zu Umfragen eines Instituts „Civey” dargelegt: „Und schließlich ist Onlineforschung für repräsentative Zwecke gänzlich ungeeignet, und die Befragungen des Spiegel gemeinsam mit dem Startup Civey aus wissenschaftlicher Sicht gar unverantwortlich”, so Prof. Schnell, Univ. Duisburg-Essen, auf dem Jahreskongress des Berufsverbandes Deutscher Markt- und Sozialforscher am 12. Juni 2018, zitiert aus marktforschung.de. Bekräftigt wird dieses Forscher-Urteil in der im August dieses Jahres erschienenen 11. Auflage des anerkannten Lehrbuches „Methoden der Empirischen Sozialforschung” von Schnell/Hill/Esser. Das zitierte Urteil des BVerfG unterstellt als selbstverständlich, dass nach bereits anerkannten wissenschaftlichen Methoden repräsentativ ermittelt worden ist. Alle deutschen Branchenverbände (ADM, BVM, DGOF und ASI) verlangen, dass ihre Mitglieder nach anerkannten wissenschaftlichen Methoden arbeiten. Es kann unter Umständen Ausnahmen zu dem zitierten Forschungsurteil von Prof. Schnell geben. So etwa, wenn ausdrücklich die Grundgesamtheit eines Online-Dienstes befragt und nur ein Ergebnis auf die Grundgesamtheit bezogen bekanntgegeben wird. In Einzelfällen mag eventuell auch eine Gewichtung repräsentative Aussagen erlauben.
5.
Für Medien-Publikationen, vor allem auch für Online-Dienste, gewinnt Richtlinie 2.1 zum Pressekodex besondere Bedeutung:
Richtlinie 2.1 – Umfrageergebnisse
Bei der Veröffentlichung von Umfrageergebnissen teilt die Presse die Zahl der Befragten, den Zeitpunkt der Befragung, den Auftraggeber sowie die Fragestellung mit. Zugleich muss mitgeteilt werden, ob die Ergebnisse repräsentativ sind.
6.
Philosophisch und rechtssoziologisch ist die Notwendigkeit, repräsentative Umfragen durchzuführen, in einer Grundnorm begründet. Siehe zu ihr: Schweizer, Die Entdeckung der pluralistischen Wirklichkeit, 3. Aufl. vergriffen; am einfachsten nachlesbar über Google, entweder über „Grundnorm”, gleich an zweiter Stelle, oder „Die Entdeckung der pluralistischen Wirklichkeit” als Suchwort.