Urteil vom 5.9.2017, Beschwerde-Nr. 61496/08.

Das Urteil fährt fort: Voraussetzung dafür [für die Verhältnismäßigkeit] ist unter anderem, dass der Beschäftigte vorab über die Möglichkeit, die Art und das Ausmaß von Kontrollen informiert wurde.
Anmerkungen
Der Fall offenbart, dass das Arbeitsrecht in der Rechtsanwendung praxisnaher gestaltet werden muss. So einfach es auch erscheint, die Praxis kann mit derartigen Urteilen nicht arbeiten. Sie lassen dem richterlichen Dezisionismus freien Lauf. Das heißt: Dir Richter können weitgehend nach ihrem eigenen Gutdünken entscheiden, und der einzelne Sachbearbeiter im Unternehmen kann nicht vorhersehen, wie entschieden werden wird. Siehe bitte links in der Suchfunktion: „Dezisionismus”. Sieben Jahre nach der Kündigung verlangt der EGMR von den zuständigen Sachbearbeitern und von den nationalen Richtern ebenso wie von der zunächst entscheidenden Kammer des EGMR Unvorhergesehenes.
Die wichtigsten Einzelheiten:
1.
Unstreitig war im Unternehmen den Mitarbeitern untersagt, privat per Internet zu kommunizieren. Ein Vertriebsingenieur hatte erheblich gegen dieses Verbot verstoßen. Er bestritt zwar. Der Arbeitgeber hatte jedoch auf 45 Seiten Abschriften privater Chats mit dem Bruder und der Schwester vorgelegt.
2. Im Jahre 2007 wurde dem Ingenieur gekündigt.
3.
Alle nationalen (rumänischen) Instanzen entschieden, dass gekündigt werden durfte.
4.
Der Ingenieur wandte sich nun an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Aber auch die zuständige Kammer des EGMR entschied so wie die nationalen Gerichte, also: Die Kündigung ist rechtswirksam.
5.
Der Ingenieur gab sich nicht zufrieden und ließ den Rechtsstreit an die Große Kammer des EGMR verweisen. Diese Große Kammer erklärte am 5.9.2017, die rumänischen Gerichte hätten unverhältnismäßig ein Recht des Ingenieurs auf Achtung des Privatlebens und der Korrespondenz (Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK) verletzt.
6.
Weshalb? Die Große Kammer des EGMR nennt eine Reihe von Kriterien, die bei der Beurteilung der Frage, ob die Überwachung der Kommunikation von Beschäftigten durch den Arbeitgeber verhältnismäßig ist, zu berücksichtigen sind. So rügt sie, dass die rumänischen Gerichte nicht geprüft hätten, ob der Ingenieur von seinem Arbeitgeber über die Möglichkeit, die Art und das Ausmaß von Kontrollen vorab informiert wurde. Ferner hätten die rumänischen Gerichte nicht geklärt, ob ein legitimer Grund für die Kontrollmaßnahmen vorlag, und ob nicht mildere Überwachungsmethoden möglich gewesen wären. Auch hätten sie die Schwere des Eingriffs in Art. 8 EMRK nicht geprüft und die Konsequenzen der Überwachung (hier: Kündigung) nicht berücksichtigt.
7.
Nach der umfangreichen vieljährigen deutschen Rechtsprechung war dieses Urteil nicht vorher zu sehen. Diese Einschätzung ist jedoch umstritten.